Schlumpi und der Hüttengeist (2011)

Autor: Carola Grundmann

Ich bin Schlumpi. Als Maskottchen von Rüdiger war ich schon sehr oft auf Reisen, denn wir sind fast gleichaltrig. Anfang September 2011 bekomme ich wieder meinen Platz im Rucksack. Neugierig schnüffele ich mit meiner Nase hervor und bin gespannt, wo es diesmal hingeht. Aha – da sind noch Kerstin und Carola, die ich schon von einigen gemeinsamen Unternehmungen kenne. Der Flieger bringt uns nach Sofia, ein Kleinbus zum Sattel Predel. Obwohl schielend und ohrlos, verrät mir meine Nase nun endlich unser Ziel: Ich werde gemütlich von Hütte zu Hütte durch das Piringebirge bis Melnik getragen. Die Drei beugen sich über eine Landkarte und diskutieren heftig. Ich schiele auf Karte und Hinweistafel, alles ist wunderbar neu markiert und beschildert. Doch warum setzen sich meine drei Menschlein nicht in Richtung roter Markierung in Bewegung, sondern verschwinden auf einem Trampelpfad im Wald? Nun ja – Homo sapiens monticola saxonice muss man nicht unbedingt verstehen. Ich genieße das gleichmäßige Schaukeln im Rucksack, schiele hinaus und bin froh aus Stoff zu sein. Die Sonne brennt, der Weg wird steil, Schweiß läuft in die Augen, ganz zu schweigen von den abertausenden Stechfliegen. Zunehmend stacheln auch mir ganze Äste von Krüppelkiefern, Wacholder- oder Beerengestrüpp durchs dünne Fell. In immer kürzeren Abständen werde ich samt Rucksack auf den Waldboden geschmissen. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Stunde um Stunde geht das so weiter: immer durch’s Unterholz, Hang querend auf ca. 2000 m Höhe, keine Spur von einem Weg, einer Hütte oder gar anderen Wanderern. Nach mühsamer Durchquerung eines zweiten Tales macht sich bei Carola und Kerstin ein wenig Ratlosigkeit breit: Wo sind wir überhaupt? Doch ich vertraue auf Rüdiger, der felsenfest behauptet, man muss sich nur weiter in die eingeschlagene Richtung durchkämpfen, irgendwann kreuzt man auf jeden Fall den roten Weg! Irgendwann! Die Stirnlampen werden griffbereit in’s Deckelfach gelegt. Aber wir erreichen ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit. Beruhigt lasse ich mich nun in den Schlaf schaukeln. Als ich wieder aufwache, ist es wirklich finster und ich stecke immer noch im Rucksack. Dann endlich! Nach 12 Stunden darf ich raus, darf meine Beinchen auf einem frisch bezogenen Bett der Javorov-Hütte lang machen. Scheinbar sind auch etwas ältere Exemplare von Homo sapiens monticola saxonice noch lernfähig. Brav marschieren meine Drei am nächsten Tag entlang der roten Markierungen auf dem Hauptkamm. Doch auch ohne Verhauer wird es wieder ein 9-Stunden-Tag. Für den höchsten Piringipfel bleibt dann weder Zeit noch Kraft, der Vortag steckt noch in den Knochen. Nach Übernachtung in einem kleinen feinen Bungalow der ansonsten ungemütlichen und mies verpflegten Virchen-Hütte beginnt ein gemütlicher, sonniger Wandertag. Auf einsamen Bergpfaden geht es zur Hütte Demjanitsa. Deren Bausubstanz kannte auch mal bessere Zeiten, doch umso freundlicher sind die beiden Hüttenwarte. Nun bin ich doch etwas traurig, nur aus Stoff zu sein. Zu gern würde ich den leckeren Schopskasalat, den Hammelbraten und die knusprigen handgeschnitzten Pommes probieren. Und erst der Raki, den der Hüttenwart großzügig in Wassergläser einschenkt! Es wird ein lustiger Abend mit den beiden Bulgaren und drei Ukrainern. Wir sind die einzigen Gäste. Der Rest des Trekkings verläuft ohne Zwischenfälle über blockgeröllhaltige Pässe, vorbei an tintenblauen Seen, unter sonnigem Himmel herrlich einsam, einsam, einsam…
Nach Übernachtung auf der wunderschön gelegenen Hütte Bezbog geht es vorbei am Tevno-Hüttchen hinab zur Pirinhütte. Blockgeröll weicht allmählich grünem Gras. Umringt von seinen Cows sitzt darin ein alter Cowboy. Die Hüte-Hunde dösen gelangweilt in der Sonne. Gegen 17 Uhr taucht die Hütte auf. Gleich werde ich aus dem Rucksack erlöst! Doch die Tür ist verschlossen. Was nun? Carola erinnert sich aus alten Ostzeiten an ein nahe gelegenes Hotel. Oh – auch das scheint schon länger keine Menschen mehr gesehen zu haben. Also zurück und um die Hütte schleichen. Vielleicht gibt es einen Hintereingang? Ein fremder Schatten schleicht auch um die Hütte. Kerstin und Carola hinterher, bis sie ihn zu fassen kriegen. Es ist der Hüttenwart, der bärtig brummelt: „Kein Strom – keine Übernachtung.“ Basta! Wie weit ist der Weg zur benachbarten Hütte? Zwei Stunden. Hat die überhaupt geöffnet? Keine Ahnung. Handyempfang gleich null. Carolas Bulgarisch-, Russisch- und Englischkenntnisse reichen nicht aus, dem Hüttengespenst klar zu machen, dass Menschen keinen Strom brauchen, ein Dach über dem Kopf und ein bisschen Wasser tun’s schon. Aber darum geht es nicht. Menschen sind Ruhestörer für Hüttengespenster! Darum geht es! Plötzlich Stimmen. Sechs andere Deutsche tauchen auf. Zwei von ihnen sprechen das Gespenst in tadellosem Bulgarisch an. Die Sache ist gerettet! Später tauchen noch zwei deutsche Mädels und ein junges polnisches Pärchen auf. Die gleiche Reaktion: Kein Strom – keine Übernachtung. Basta! Doch zu guter Letzt dürfen alle bleiben. Alle möchten heißes Wasser für die Abendessentütensuppen, doch Hüttengespenster entziehen sich diesen niedrigen menschlichen Bedürfnissen. Den Ofen selbst anheizen traut sich keiner. Also werden trockene Reiswaffeln zu lauwarmen Bier gekaut, dazu Kerzenschein. Am nächsten Tag stopft mich Rüdiger wieder in den Rucksack. Nun geht es endgültig raus aus dem Gebirge, über das berühmte Rozhenkloster hinab durch bizarre Sandsteinfelsen nach Melnik. Mein Fell ist verdreckt, die Beine zerknautscht, die Popel verschmiert – aber schön war’s!