Schwarzes Eis unter weißer Sonne (2003)

Auror: Volker Beer

Seit Mai liegt die Hitze über dem Land. Aber wir lassen uns nicht abschrecken und fahren Mitte August wieder den Alpen entgegen. Auf dem Bahnhof Ötztal treffe ich mich mit Uwe. Mit einem Bus fahren wir nun bis Niederthai. Jetzt heißt es, die Rucksäcke selber zu tragen. Diese sind wieder einmal besonders schwer, haben wir uns doch die komplette Fels- und Eisausrüstung aufgepackt. Die Sonne brennt erbarmungslos auf den Forstfahrweg, der zur Guben-Schweinfurter Hütte führt. Die Arven spenden nur wenig Schatten und bleiben bald unter uns zurück. Alpenrosen überziehen den Hang, die Forststraße endet und ein steiniger Pfad schlängelt sich durch den sonnendurchglühten Hang. Schweißgebadet erreichen wir die Hütte, belegen das Lager und schon schäumt das Bier im Kruge.
Mit strahlender Sonne erwacht der neue Tag und so wollen wir gleich eine kräftige Rundtour unternehmen. Mit einem doch nicht zu leichten Tagesrucksack brechen wir schon zeitig auf. Steigeisen und Seil sind im Rucksack, obwohl wir auf markiertem Pfad zum Zwieselbacher Roßkogel aufsteigen und diesen überschreiten wollen. Doch die Gletscher sollen im schlechten Zustand sein und ob der Pfad über das Eis begehbar ist, kann auch der Hüttenwirt nicht sagen. Zügig steigen wir auf. Bald werden wir voll ausgebremst. Heidelbeeren und Rauschbeeren soweit das Auge reicht. Die Sträucher sind übervoll von den Früchten. Wir weiden uns über die Hänge, ganze Hände voller Beeren können wir von den Sträuchern streifen. Aber der Berg ruft. Steile Schotterrinnen und Schrofen führen nach oben. Glücklicherweise liegen diese noch im Schatten. In der Scharte treten wir hinaus ins gleißende Sonnenlicht. Über den Grat gelangen wir zügig zum 3081 m hohen Gipfel und packen unsere Brotzeit aus. Weit liegen die Stubaier und Ötztaler Alpen vor uns. Die Gletscher sind grau, schwarz und streifig, nirgends glänzt Firn in der Sonne. Die Pfadspur führt uns nach ausgiebiger Rast zum Kraspesferner. Auch dieser ist völlig frei vom Firn. Der obere Teil des Gletschers ist nahezu eben, ein paar kleine Risse, Wasser gluckert. Wir legen Steigeisen und Gurtzeug an und beginnen den Abstieg. Zunächst können wir zügig über den sanft abfallenden Gletscher absteigen. In der Mitte bricht der Gletscher plötzlich steil ab. Mächtige schwarze Spalten gähnen. Tosende Wasserfälle stürzen hinein. Die Karte lügt in ihren Hals hinein. Hier gibt es keinen sanften Gletscherhatscher mit Pfadspur! Loses Geröll, glattgeschliffene Felswände rahmen das Eis ein. Steinschlag poltert. Auf die frische Moräne zu steigen ist zu gefährlich. Bei Berührung rumpelt das Geröll zu Tal. Wir bewegen uns am Rande des Gletschers talwärts. Die Abbrüche und die großen Spalten sperren uns den Weg. Wir finden ein paar aus dem Eis ragende Felsen, die ebenfalls steil zum Tal abbrechen. Unter uns gähnt eine Randkluft, viel feines Geröll liegt auf dem schwarzen Eis. Wir beraten. Zurück zum Gipfel und über den im Vergleich zu diesem Gletscher doch bequemen Aufstiegsweg zur Hütte absteigen? Doch da ist ein schmales Bändchen im Fels, voller Schotter. Es zieht zur Seite aus dem Gletscher in alte Moränen. Das könnte der Ausweg sein. Wir seilen uns ein und setzen den Abseilhaken. Vorsichtig seile ich zum Felsband ab und räume das Geröll ab. Dumpf poltern die Steine ins schwarze Maul des sterbenden Gletschers. Das Band ist fest. Uwe sichert und ich beginne die Traverse. Nach einigen bangen Minuten erreiche ich die alte, feste Moräne. Ich sichere mich und übernehme Uwe. Nun ist der Weg ins Tal frei. Über Toteis gehen wir noch ein Stück angeseilt, aber bald verschwinden Seil, Schlosserei und Steigeisen in unseren Rucksäcken. Auf den alten Moränen ist auch wieder der Pfad zu erkennen. Über eine Scharte wollen wir zur Hütte zurück, aber diesen Weg gibt es nicht mehr. Vor uns öffnet sich ein steinschlagdonnernder Bruchkasten. Also bleibt nur der weite, aber sichere Weg. Wir müssen bis auf 2025 m in ein enges Tal absteigen. Von dort steigen wir steil, aber eisfrei auf markiertem Pfad zu den 2741 m hohen Steintalspitzen auf. Wir erreichen sie bei später Nachmittagssonne, in welcher der Finstertaler Stausee funkelt. Im Osten grummelt ein Wärmegewitter. Sogleich steigen wir ab. Hinunter bis zum Stausee auf 2322 m führt uns der Pfad. Das Gewitter erreicht uns glücklicherweise nicht. Dafür läuft uns die Zeit davon. Bald wird es Nacht. Wir wählen nun die Hauptwanderwege. Noch ein Sattel steht vor´m Hütterl. Hinauf zur Finstertaler Scharte! Auf 2780 m Höhe erleben wir einen phantastischen Sonnenuntergang. Nun geht es auch für uns nur noch bergab zur Hütte. Am Wegweiser sind aber über zwei Stunden Gehzeit angegeben. Hoffentlich „Jochbummlerzeitangaben“. Wir steigen im Eiltempo über die Almen ab und erreichen bei Einbruch der Nacht im letzten, spärlichen Dämmerlicht die Hütte. So groß hatten wir unsere „Einlauftour“ nicht geplant. 13 Stunden wanderten wir und überwanden dabei 2220 Höhenmeter im Auf- und Abstieg. Dazu noch die Klettereinlage. Müde fallen wir auf unsere Lager. Phantastisch war der Tag trotzdem, oder vielleicht auch gerade wegen der unvorhergesehenen „Schmankerl“ welche die Natur für uns bereit hielt.
An den folgenden Tagen wandern wir nun von Hütte zu Hütte, überschreiten die verschiedensten Pässe und widmen uns auch den Gipfeln. Im Gegensatz zum Hochstubai ist dieser Teil des Gebirgszuges weniger begangen, auch wenn so manche Hütte mehr als gut belegt war. Schon an den ersten Abenden lernten wir Bert aus Belgien kennen. Wir setzen unsere Tour gemeinsam fort. Über den knapp 3000 m hohen Gleirscher Roßkogel und viel Schotter erreichen wir die Pfortsheimer Hütte. Bald gluckert der Tee in unseren Trinkflaschen, denn die Bierpreise sind wieder einmal sehr gesalzen und der Wirt besonders „freundlich“, so daß wir uns genötigt sehen, auf die Rucksack­verpflegung zurück zu greifen. Ein Schafhirt in Tiroler Arbeitstracht gibt zotige Lieder zum Besten, schimpft auf die Bergsteiger und Wanderer, die seine Schafe ständig versprengen und nur Unruhe ins Gebirge bringen. Tirol ist halt wie seine Filme und Steinlawinen etwas poltrig. Anderentags, wir sind bereits wieder unterwegs und es schlossen sich uns noch zwei waschechte Ostfriesen an, sehen wir am gegenüberliegenden Wiesenhang die Schafherde, um die der Hirte rennt. Der Hütehund sitzt friedlich abseits. Ja, ein guter Hirte ersetzt immer noch den Hütehund. Gegen Mittag sitzen wir auf dem Gipfel der 3008 m hohen Schöntalspitze und genießen den Blick zurück über die Etappen der letzten Tage. Das Wetter ist heute mal mehr von Wolken geprägt. Schontag für unsere Sonnenbrände. Die Sicht auf das Gipfelmeer ist aber ungetrübt. Wieder erwartet uns ein schier endloser Schotterhang, hinab zum Westfahlenhaus, wo die Verpflegung bestens, die Lager geräumig und die Wirtsleute freundlich sind. Schon bald sitzen wir am reich gedeckten Tisch und das Bier schäumt in den Krügen. So sollte es auf allen Hütten sein, aber leider ist das nicht die Regel. Auf so mancher Hütte werden 6 bis 7 Bergsteiger auf 4 Lagermatratzen gepfercht. Das engste Lager maß gerade mal 1,70 m in der Länge und 0,60 m in der Breite! Hühner darf man nicht in Legebatterien halten, aber offenbar gibt es noch kein Gesetz über die Haltung von Bergsteigern auf Hütten. Derartige Lager sind jedenfalls alles andere als artgerecht! Dazu kommen auf so mancher Hütte noch verkleistertes Essen und saftige Preise. So kann man für einen Halben (0,5 l Bier) zwischen 3,00 € und 4,40 € berappen. Das Lager kostet für Alpenvereinsmitglieder zwischen 6,00 € und 6,50 €, das Teewasser je Liter um 1,50 €, das Bergsteigeressen zwischen 6,00 € und 7,00 €, das Bergsteigerfrühstück gibt es von 3,50 € bis sage und schreibe 8,00 €! Und das bei durchaus vergleichbarem Frühstücksangebot! Suppen kosten zwischen 3,00 € und 5,00 €. Nichtmitglieder berappen für ein oftmals nur lauwarmes Essen a la Card zwischen 10,00 € und 20,00 €. Leider ist die Hütte mit preiswerter und ausgezeichneter Küche, gutem und bequemen Lager sowie freundlicher Wirtschaft schon die Ausnahme. Auf unserer diesjährigen Hüttentour ist das Westfahlenhaus diese löbliche Ausnahme wogegen die Pfortsheimer Hütte den „Misabella – Orden“ für Mist – Schund und Schluderei verdient hat. Aber nun ist genug Hüttenpolitik gemacht.
Nach einem sehr angenehmen Aufenthalt auf dem Westfahlenhaus steigen wir bei herrlichstem Sonnenschein zum Längentaljoch auf. Der Längentalferner ist zu queren, doch auch hier erwartet uns statt eines Gletscherhatschers in Pfadspur ein völlig ausgeaperter Gletscher, der im oberen Drittel von tiefen, frischen Spalten zerrissen ist. Also wieder anseilen, Eisschrauben setzen, und von Uwe gesichert, quere ich die erste Spalte. Eisschrauben eindrehen und dann kann ich Uwe, sowie unsere Hüttenbekanntschaften, Bert aus Belgien sowie Otto und Peter, die beiden Ostfriesen, nachholen. Ohne Zwischenfälle erreichen wir das knapp 3000 m hohe Längentaljoch. Nach ausgiebiger Rast steigen wir über wieder mal schier endlose Schotterfelder zur Amberger Hütte ab. Hier trennen sich unsere Wege. Uwe und ich steigen nach Gries ab. Von diesem kleinen Ort fahren wir mit dem Postbus über Lengenfeld und Sölden nach Obergurgl, denn wir wollen uns mit Hans, einem waschechten Bajuwaren aus Altötting, im Ramolhaus treffen.
Wir schultern wieder die prallen Ruck­säcke und wandern durch den mondänen Ort. Bald erreichen wie den Ramolweg, einen phantastischen Panoramaweg, der uns zur Hütte führt. Heidelbeeren, Rauschbeeren und Krähenbeeren tragen auch hier reichlich Früchte, so daß wir so manche Beeren­pause einlegen. Die Sonne strahlt und von Ferne grüßen Hochwilde, Annakogel und die Karlsspitze. Der Gurgler Ferner zeigt sich im matten Grau, ganz ohne Firn. Gleichmäßig steigt der schöne Panoramaweg, tief eingeschnitten liegt das Tal unter uns. Wasserfälle rauschen und die Bergdohlen umkreisen uns. Im Nachmittag erreichen wir das auf 3005 m gelegene gräumige, aber auch urig gemütliche Ramolhaus. Der Blick vom Schankraum ist phantastisch und schon wird die Moaß gebracht. Hans ist auch auf der Hütte und beim gemütlichen Hüttenabend setzt sich Matthias, ein Bergsteiger aus Karlsruhe, zu uns. Morgen wollen wir zusammen zu den Ramolkogeln aufsteigen.
Ein wolkenloser Morgen dämmert herauf und wir treten fröstelnd vor die Hütte. Goldgelb erstrahlen die Felsen im Licht der aufgehenden Sonne, in den Tälern liegt noch die Nacht. Wir steigen zum Ramolferner und legen die Steigeisen an. In der Nacht hat es gefroren und knirschend greifen die Eisen ins blanke, harte Eis. Auch hier ist nirgends mehr Firn zu finden. Der Gletscher ist gut zu begehen, kaum größere Spalten und so erreichen wir zügig den Westgrat des Nördlichen Ramolkogels. Über die NW-Flanke steigen wir zum Gipfel. Immer wieder rutscht das lose Gestein zu Tal. Der ganze Berg ist über und über mit losem Schotter bedeckt. Aber bald können wir uns auf dem 3428 m hohen Gipfel die Hände reichen und das Frühstück aus dem Rucksack nehmen. Die Sonne steht noch tief im Osten aber schon quellen die ersten weißen Wolken und tauchen die wilde Hochgebirgslandschaft in ein Spiel aus Licht und Schatten, Nebel und Fernsicht. Der Tag liegt noch vor uns und so können wir alle vier Ramolkogel überschreiten. Der Vorschlag ruft bei Uwe und Hans keine Begeisterungsstürme hervor. Hans möchte lieber eine Talwanderung unternehmen und Uwe möchte keine Gipfeljagd. So übernehmen Matthias und ich die Kletterausrüstung, während Uwe und Hans langsam absteigen. Wir wenden uns dem Grat zum Mittleren Ramolkogel zu. Über große Platten steigen wir in nördlicher Richtung ab und erreichen bald den schmalen Sattel zwischen beiden Gipfeln. Inzwischen ist das Wetter wolkiger geworden, aber alle Gipfel sind frei. Angeseilt steigen wir zum Mittleren Ramolkogel. Matthias greift nach einem großen Felsblock, der den Grat und uns den Weg versperrt. Der Brocken muss überklettert werden. Aber dazu kommt es gar nicht. Der Block bewegt sich zunächst ganz langsam zur Seite, Matthias springt zurück und der tonnenschwere Koloss kracht einige hundert Meter in die Tiefe, zersplittert im Kar und hinterlässt eine stinkende Rauchwolke. Ein heißer Sommer oder doch schleichende Erwärmung? Der Permafrostboden ist Matsch und der Grat eher ein lockeres Konglomerat bestehend aus vom auftauendem Erdreich noch irgendwie zusammengehaltenen Felsblöcken. Der Grat wird wieder breiter und wir können im griffigen Fels zum Gipfel hinaufklettern. Auf dem 3520 m hohen Mittleren Ramolkogel legen wir keine Pause ein und gehen gleich zum nächsten Grat, der diesen mit dem Großen Ramolkogel verbindet. Dieser Grat hat es in sich. Das Gestein ist glücklicherweise fest, aber es gilt mehrere mächtige Gendarmen zu überklettern. Am fast senkrechten Fels steigen wir gut 500 m über dem Kar. Aber der Fels ist griffig. Dann zwängen wir uns durch einen engen Kamin eines gespaltenen Blocks. Die Zeit vergeht, aber wir kommen gut voran. Kletterei meist im III. Grad, dazwischen immer wieder Gehgelände. Mit durchgekletterten Fingern erreichen wir im späten Mittag den Gipfel. Weit schweift der Blick über die Zentralalpen. Die Mehrzahl der Gletscher zeigt sich auch hier grau mit schwarzen Streifen. Nur die höchsten Gipfel tragen noch weiße Hauben. Das Wetter ist wolkig geblieben aber immer wieder lugt die Sonne mit grellem Licht durch die Wolken. Wir halten auf dem 3550 m hohen Gipfel eine längere Brotzeit. Aber der Abstieg läßt sich nicht weiter hinausschieben. Auf gleichem Weg kehren wir zum Mittleren Ramolkogel zurück. Also all die Kletterstellen nun im Abstieg abklettern. Aber der Abstieg verläuft besser als gedacht. Am Mittleren Ramolkogel lasse ich mich von Matthias überreden, direkt über den Südgrat zum Kleinen Ramolkogel und von diesem zum Ramoljoch abzusteigen. Nur kennen wir diesen Weg nicht vom Aufstieg und schon bald suchen wir inmitten loser Platten nach Kletterspuren. Aber es geht. So manches brüchige Wandel klettern wir ab. Glücklicherweise finden wir immer wieder festen Fels und den Grat. Nachdem wir den Kleinen Ramolkogel überschritten haben, erreichen wir endgültig Gehgelände und können das Kletterseil und die weitere Ausrüstung endlich ablegen und in unseren Rucksäcken verstauen. Dieser Abstieg kostete Zeit und Kraft. So sitzen wir am frühen Abend am Ramoljoch und verzehren unseren letzten Proviant, denn hier treffen wir auf den markierten Weg und können zügig über eine große und sehr lange Eisenleiter ins Kar absteigen. In der Hütte erwarten uns Hans und Uwe und schon halte ich die Moaß in der Hand. Zufrieden aber auch völlig geschafft von dieser grandiosen Überschreitung aller vier Ramolkogel steige ich ins Lager. Ein schöner Bergurlaub geht zu Ende. Der Folgetag sieht uns wieder bei strahlendem Sonnenschein durch duftende Arvenwälder nach Obergurgl absteigen. Ein phantastisches Schafsessen auf der Erlanger Hütte, das vom Arbeitskreis Berglandwirtschaft veranstaltet wurde, bildet den kulinarischen Abschluss unserer diesjährigen Bergfahrt.