Die weiße Hölle vom Sarek (2003)

Autor: Matze Goede

80 / 51 … Kombinierte Pulka-Tour in Nordschweden
Projekte schlummern oft ewig vor sich hin. Egal ob große oder kleine, irgendwie zerrinnt die Zeit, andere Sachen werden auf einmal wichtig oder vorgeschoben und es gibt immer wieder (scheinbar) gute Gründe, manchmal ja (leider) auch Zwänge, alles weiter schlummern zu lassen… Und so war es auch mit dem Sarek. Das war mittlerweile eines von den so genannten alten Projekten.
Eigentlich wäre ja der erste Schritt Richtung Sarek Ulf’s Ausreise nach Nordschweden (Umea) gewesen, wohin er nicht wegen der Frauen (wie er uns selbst heute noch immer glauben machen will), sondern wegen der interessanten Arbeit und den 10 Monaten pro Jahr idealer Skibedingungen, wobei allerdings fast 2 Monate ohne Tageslicht natürlich keine Einschränkung bedeuten, gegangen ist. Trotz schöner Vasaläufe und Sommertouren in den letzten Jahren in Schweden – mit und ohne Ulf – döste das Projekt weiter unauffällig im Hintergrund vor sich hin…
Doch Ulf’s Platzierung beim letzten Vasalauf machte dem Siechtum ein Ende. 51.! beim Loppet, jetzt reicht’s!!!
Wir mussten etwas unternehmen, um diese Leistung ausreichend zu würdigen. Schnell war klar was zu tun war, die logische Konsequenz: eine Vasalauf-51.-Gedächtnistour mit Ulf, natürlich irgendwo im schönen Schweden – und da kam uns der Sarek gerade recht, denn das war ja eh’ ein altes Projekt…
Und da zogen wir nun zu viert mit drei Pulkas im Schlepp durch die grandiose Winterlandschaft der nordschwedischen Berge. Wir hatten entschieden, dass drei Pulkas ausreichen, was im Endeffekt auch das Transportproblem bei der Anreise erleichtert hatte: 3 Pulkas + Ski + Rucksäcke waren eine nette Ansammlung von Gepäckstücken, die man gerade noch bewegen konnte und die man auch (was weit wichtiger war) unauffällig in den Zügen Schwedens zur Freude der Mitreisenden ablagern konnte. Je nördlicher wir kamen, um so entspannter wurde die Situation und irgendwann bestanden unsere Reisebegleiter zu großen Teilen aus einheimischen Skifahrern, Pulkaziehern, Wochenend-Eisanglern oder Snowmobil-Fahrern. Das konnte ja heiter werden, nix mit Einsamkeit…
In Gällivare war Ulf zugestiegen und als der Bus die Endhaltestelle erreichte, liefen die Leute irgendwie abrupt auseinander und Richtung Sarek entfernte sich nur eine einsame Spur.
Das Gepäck, zunächst ein riesiger unförmiger Haufen, verschwand ohne Widerwillen in den Tiefen der Pulkas, und ohne Rückenschmerzen vom schweren Rucksacktragen, zogen wir nun dahin, das Wetter war bestens und wir guter Stimmung. Am zweiten Tag verließen wir die Spur und bogen scharf Richtung Süden ab, den zentralen Bergmassiven des Sarek entgegen.
An sich ist der Sarek kein großer Nationalpark. 1909 gegründet, misst er gerade mal knapp 2000 km2, davon sind 7% Gletscher. Umgeben von Seen wirkt er von der Ferne wie eine gigantische Hochebene – ähnlich der Hardangervidda in Norwegen – nur das die Berge hier höher und schroffer sind.
Das zentrale Hochplateau mit seinen Tälern liegt knapp 900 m hoch und die höchsten Gipfel erreichen knappe 2000 m. Das heißt, hier findet man auf kurzer Distanz beachtliche Höhenunterschiede mit Wänden nicht selten zwischen 400-700 m und somit zahllose Tourenmöglichkeiten im Kombigelände, reine Eisanstiege, Couloirs, Grattouren, Skiabfahrten…
Auf schwere Belagerung waren wir materialmäßig nicht vorbereitet und auch nicht ganz in der richtigen Besetzung. Aber das war ja auch nicht Ziel der Sache. Wir wollten den Sarek durchqueren, die alpine Lage peilen und vor allem ausreichend dem 51.’ gedenken. Dabei fielen ein paar nette Touren mit ab, u.a. auf den Stortoppen (2089 m), alles in allem nette Eisanstiege über Flanken und Grate mit schönen Tiefschneeabfahrten am Ende, die dank der Kombination Plastebergschuh-Hochtourenbindung ihrerseits eine spezielle Aufmerksamkeit erforderten.
So waren die Prioritäten der Tour klar definiert und alles ließ sich prima in den Expeditionsalltag integrieren… frühes Aufstehen war nicht gerade unsere Stärke – von daher waren wir natürlich schon in idealer Besetzung unterwegs – aber dank des fortgeschrittenen Winters und der Lage nördlich des Polarkreises war auch zur späten Abendstunde der alpine Rückzug bei ausreichender Beleuchtung entspannt möglich.
So harmonierte alles wunderbar: das Wetter, die Berge, die Pulkas & wir davor, die Verpflegung. Der 51.’ war glücklich und wir auch…
Trotzdem war die Sache nicht so perfekt wie es zunächst schien, denn das Thema Verpflegung kann schnell zum strittigen Punkt bei Touren werden, da sich nicht alles im Vorfeld klären lässt. Schnell werden dann während so einer Tour Fragen aufgeworfen wie z. B.: Gilt Müsli-Essen schon als alpine Herausforderung? Kann man drei Tage ohne Kaffee auskommen? Kann man Tee ohne Zucker überhaupt trinken? oder reichen 1,5 l Stroh 80 wirklich für 4 Leute bis zum Ende?
Hier taten sich nun auch bei uns Abgründe auf! Das man ohne Kaffee 3 Tage Pulkas ziehen & Berge steigen konnte, wurde durch Lars und mich locker bewiesen. Auch das Müsli Thema entspannte sich, da Bernhard die überlagerten Expeditionsvorräte der letzten Grönland- Kajaktour zur Abwechslung in unglaublich schmackhafter Form feilbot. Aber das Zuckerthema spitzte sich zu…
Wir hatten nur ein halbes Kilo dabei. Wie wir jetzt bemerkten, eine Katastrophe, denn Ulf, unsere Loppetrakete, funktionierte im Prinzip ohne Zucker nicht – wie ein Zweitakter der mit blankem Sprit fahren muss…
Ulf begann sich nun heimlich seinen Tee zu süßen und als wir ihn auf frischer Tat ertappten, meinte er, man könne nun mal Tee nicht ohne Zucker trinken, niemals. Gut!
Von nun an wurde die Zuckerdose streng bewacht und es kam wie es kommen musste, Ulf wurde krank. Es löste sich die Haut in riesigen Stücken von den Fersen. Zuckermangel, meinte Ulf. Unser Einwand, dass es vielleicht an den neuen Schuhen liegen könne, wurde vom 51.’ ignoriert. Um die Gesundheit unseres Freundes nicht nachhaltig zu gefährden, teilten wir das Zuckerkontingent neu auf und Ulf ging es schnell besser.
Blieb noch das Stroh 80 Thema. Als wir am ersten Tag unseren Kram in den Pulkas verstauten, fragte ich in die Runde, wofür DAS denn gut sei. Ich erntete mehrere verständnislose Blicke und Bernhard meinte nur „DAS hätte sich bewährt“. So war ich also gespannt, wie sich die bewährten Dinge entwickeln würden. Und dann war es soweit: nach dem Abendessen und dem obligatorischen Schneegeschmelze für Teewasser & Frühstück waren die letzten beiden Töpfe dran. Diese ergaben für jeden noch einen schönen halben Liter schwarzen Tee und dazu, je nach Belieben, einen gewissen Schluck Stroh.
So lagen wir dann zu viert nebeneinander, jeder kuschelig warm in seinem Schlafsack, und erzählten Geschichten. Von früher… da wir alle über 30 waren, ist das erlaubt und auch kein Problem. Die Nalgene-Flasche in der Hand wärmte wunderbar und ein Schluck aus selbiger entspannte die tiefen Regionen der Seele. So als Absacker vor’m Einschlafen… auch ich gewöhnte mich schnell an dieses schöne Leben…
Nachdem die ersten Tage so schön zu Ende gingen, mussten wir uns einschränken, denn der Vorrat schrumpfte merklich. Das war hart, aber wie bei vielen Dingen war auch dies nur eine Frage der Konzentration. Und so ging es tatsächlich auch ein paar Tage ohne Stroh, man lernt halt nie aus…
So vergingen die Tage, wir zogen unsere Spur durch den Sarek, stapften manchmal Gedanken versunken stundenlang hintereinander her, vergruben unser Zelt hinter Schneemauern gegen den Wind, freuten uns an den Rentieren, genossen die wärmenden Sonnenstrahlen am Mittag, den Abendhimmel, die Einsamkeit und Ruhe, die Aussicht auf die erhabenen Gipfel und von oben auf die endlose, im Eis erstarrte Tundra… und plötzlich schmolz der Schnee.
Wir hatten den zentralen Teil des Gebirges verlassen und noch gut zwei Tage zu laufen, um aus den Bergen herauszukommen, aber in den Nächten war die Kälte gewichen und der Schnee fror nicht mehr richtig durch. Da wir uns aber den Weg durch die Täler bahnen mussten, die ihrerseits aus vielen Seen bestanden und oberflächlich auch zum Glück noch gefroren waren, floss das Schmelzwasser auch genau da zusammen und bildete auf dem Eis lustige Untiefen und das in beachtlichen Ausmaßen.
In den tieferen Lagen schmolz der Schnee schon auf den Wiesen und wenn die Pulka zwischen den Moosbeerenbüschen hindurch schlingerte und wir sorgfältig den Steinen auswichen, dann wieder wie auf rohen Eiern über’s dünne Eis schlichen, war das auf jeden Fall eine neue Dimension in Sachen kombiniertes Gelände. Die Bäche wurden breiter, die Seen tiefer und das Gelände somit nicht langweiliger. Nach einigen Ausweichmanövern, die fast den halben Tag gekostet hatten, entkamen wir dann doch über den letzten Paß.
Endlich ging es straff bergab Richtung Baumgrenze und im sportlichen Slalom durch’s grüne Birkenbollwerk weiter Richtung Tal. Die Reste einer alten Scooterspur verströmten den Eindruck der Nähe der blonden nordschwedischen Zivilisation und so schmatzten wir mit unseren Steigfellen hochmotiviert im knöcheltiefen Wasser durch die grüne Tundra und die kreuzenden Bachläufe, über Holzbrücken und die letzten Schneereste… dem Endpunkt entgegen.
Als wir am späten Abend auf Altbewährtes zurückgriffen, meinte Ulf, das er lieber 2x Vasalauf klassisch laufen würde, als so was nochmal… und während wir noch darüber nachdachten was er denn mit so was gemeint hatte, hörten wir schon sein ruhiges Atmen aus der Ecke – na ja die 51.’ sind auch nicht mehr das was sie mal zu olle Vasa’s Zeiten waren…
Morgens lachte die Sonne, wir sortierten unseren Kram, trampten per Pick-up zum nächsten Busstop, schlossen den 51.’ in die Arme und genossen einen letzten Blick auf die geliebten Berge. Dann machten wir uns auf den Heimweg und in der weißen Hölle begann langsam der Frühling zu erwachen…
Infos zu Sarek-NP, Wintertouren Sarek: matze@happy-tree.de