Mont Blanc (2003)

Autor: Stefan Franzky

Kurz nach der Wende, als der Aufbruch der sächsischen Bergsteiger in die Gebirge der Welt begann, fragte mich ein Bergfreund nach einem Everest-Vortrag nach meinen großen persönlichen bergsteigerischen Zielen. Ich antwortete ihm damals: „Mein Everest steht in den Alpen und heisst Mont Blanc“.
Seither verfolgte ich das Ziel, einmal den höchsten Berg der Alpen zu besteigen. Nach den Erfolgen aus den vergangenen Jahren und besonders dem letzten Jahr an den leichteren Viertausendern im Wallis schien mir in diesem Jahr die Zeit gekommen. Als einer meiner Wunschpartner war Ingo schnell für das Vorhaben gewonnen.
Doch wie beginnen? Vor allem: auf welcher Route? Vorbereitung?
Der Literatur war zu entnehmen, dass die Schwierigkeiten auf den zwei Normalwegen weniger im technischen, mehr im Ausdauer- und im Akklimatisierungsbereich liegen würden.
Also war zunächst intensives Training in den Bergen angesagt.
Da ich seit dem Jahr 2000 in der Schweiz lebe, bin ich in der glücklichen Lage, nahezu jedes Wochenende im Hochgebirge unterwegs zu sein. Aber auf 4807 m kommt man auch in der Zentralschweiz nirgends, und die nächsten Viertausender sind auch ein ganzes Stück von meinem Wohnort entfernt. Es blieb also neben dem Training die Frage der Akklimatisierung, die Frage nach dem ‚Warm up’.
Die Wahl für die Vorbereitungswoche fiel auf die Grajischen Alpen, mit der Besteigung des Gran Paradiso als Höhepunkt.
Danach setzten wir nach Chamonix um. Spätestens jetzt mussten wir uns für eine Route entscheiden, die Normalroute über Aguille du Goûter oder die Route über Grands Mulets. Das Wetter war ideal. Nach einigem hin und her entschieden wir uns für die Normalroute über beide Hütten (Refuge de Tète Rousse und Refuge de l’Aig. de Goûter wegen der nochmaligen Akklimatisierung), was sich im nachhinein als richtige Entscheidung erweisen sollte. So stand als nächstes die Frage der Hüttenreservierung. Da wir uns mit unseren extrem spärlichen französischen Sprachkenntnissen nicht in der Lage sahen, eine Hüttenreservierung per Telefon vorzunehmen, wandten wir uns an das örtliche Alpinbüro in Chamonix. Dort war man allerdings wenig hilfsbereit und verwies uns auf das Telefon. So schlau waren wir auch alleine. Also versuchte ich dann doch, auf den Hütten anzurufen. Es kam, wie es kommen musste. Eine automatische Telefonansage erklärte uns irgendwas in der Landessprache, ich verstand kein Wort. Etwas konsterniert legte ich auf. Silke kam dann die Idee, es doch noch einmal im örtlichen Tourismusbüro zu versuchen. Und siehe da, es klappte! Eine sehr nette junge Dame, die ausser der französischen Sprache auch die englische beherrschte, teilte uns zunächst mit, dass die Hütten bis Ende Oktober ausgebucht seien. Wir baten sie darum, es wenigstens zu versuchen. Dann wählte sie eine bzw. zwei Telefonnummern für die Hütten, die sich deutlich von denen unterschieden, die man uns im Alpinbüro gegeben hatte. Sie hatte auch gleich die Hüttenwirte dran und keine automatischen Telefonansagen. Zufälligerweise (!?) hatten wohl auch einige Aspiranten abgesagt, so dass wir innerhalb kurzer Zeit unsere Hüttenreservierung hatten! So konnte es also am folgenden Tag endlich losgehen.
Silke brachte uns nach St-Gervais. Hier nahmen wir die Tramway du Mont Blanc, ein etwas altertümliches Gefährt, welche uns bis Nid d’Aigle beförderte. Die 2550 m bis zum Gipfel sind ab hier zu Fuss zurückzulegen. Zunächst 800 mH bis zu unserem ersten Ziel, Refuge Tète Rousse. Der Weg dorthin führt recht angenehm ansteigend, zuletzt über einen kurzen Grat und über einen fast spaltenlosen Gletscher zur Hütte, die mehr einer Baubaracke ähnelt, auch innen. Die Hütte war überbelegt, einige mussten auf Notlagern schlafen. Über die sanitären Bedingungen möchte ich lieber schweigen, aber so schlimm hatte ich es noch nirgends erlebt. Eine neue Hütte, gleich neben der Alten, ist im Rohbau schon fertig. Am nächsten Tag warteten auf uns nur die 700 mH zum Refuge de l’Aig. de Goûter, allerdings mit der objektiv gefährlichsten Stelle des gesamten Aufstiegs, dem sehr steinschlaggefährdeten Grand Couloir. Dies ist eine ca. 60 m breite, schuttige Rinne, die es pfadlos zu queren gilt, bevor man auf der gegenüberliegenden Seite den stahlseilversicherten Felsgrat erreicht, über den man teils recht luftig zur Hütte gelangt. Das über die Rinne gespannte Stahlseil erwies sich als eher hinderlich. Wir haben es probiert, im Aufstieg mit, im Abstieg ohne Stahlseil. Ohne ist die Querung der Rinne wesentlich schneller durchzuführen, was im Falle plötzlichen Steinschlags die Gefahr wesentlich verringert. Allerdings sollte man trittsicher sein, ein Ausrutscher kann dumm enden. Am späten Vormittag erreichten wir die Hütte und hatten nun den ganzen Tag Zeit, von oben das Treiben ringsum zu beobachten, besonders das im Grand Couloir. Im Führer stand, dass nur am Nachmittag und Abend mit Steinschlag zu rechnen ist. Das können wir nicht bestätigen, aufgrund der in diesem Sommer recht hohen Temperaturen gingen den ganzen Tag über mehr oder weniger grosse Steine nach dem Zufallsprinzip durch das Couloir zu Tale. Bis zum Abend riss der Zustrom der Gipfelaspiranten nicht ab, so dass die Hütte aus allen Nähten platzte. Jetzt erwies sich unsere Reservierung für die Lager als richtig, denn viele mussten im Gastraum schlafen, auf den Treppen, in den Gängen, bei den Schuhregalen …
Am 05.08.2003, ca. 2.00 Uhr in der Nacht, war dann allgemeiner Aufbruch gen Gipfel. Es herrschte der Ausnahmezustand auf der Hütte, da es offenbar einigen Bergfreunden darum ging, als Tageserste auf dem Gipfel zu sein. Wir liessen die Massen erst mal durchrauschen und gingen so ziemlich als Letzte von der Hütte los (um letztendlich im vorderen Drittel oben anzukommen).
Wir waren sehr gut drauf, keinerlei Kopfschmerzen oder andere Höhenprobleme, eine gute Akklimatisierung zahlt sich eben aus.
Zunächst im Schein der Stirnlampen völlig unprosaische Schneestapferei bis auf den Dome du Gouter. Ab dem Col du Dome dämmerte es langsam und der Mont Blanc und dessen Umgebung begannen im Morgenlicht ihren Zauber zu entfalten. Ein phantastisches Farbenspiel kündigte den nahenden Tag an. Nach einem kurzen Aufschwung standen wir am Refuge Vallot, vor uns der Bosses-Grat. Dieser wurde jetzt schmaler und steiler und überraschte uns kurz unterhalb des ersten Gratbuckels mit einer doch recht breiten Spalte, an der es einen kleinen Stau gab. Doch mit einem durch Pickeleinsatz unter­stützten Übertritt war die Spalte gut zu bewältigen. Am anschliessenden schmalen Firngrat gab es einige nette Begegnungs­manöver mit entgegen­kommenden Seilschaf­ten. Der Grat wandte sich dann nach links und nach einem letzten Aufschwung lag nur noch der leicht ansteigende Gipfelgrat vor uns.
Irgendwann auf diesem Grat, kurz vor dem Gipfel war er dann da, der Augenblick, nur für Sekunden, in dem sich ein lange gehegter Traum erfüllt. Ich hatte das absolute Gefühl zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, Teil eines Puzzles, das sich nun zum Ganzen fügte. Ein absoluter Euphorieausbruch, mir war feierlich zumute und ich meinte eine Symphonie von Beethoven zu hören, wie in einem riesigen Festsaal (hoffentlich klingt das nicht zu pathetisch, aber mir war tatsächlich so zumute). Mir standen kurz Tränen in den Augen. Wir hatten alles richtig gemacht, waren am Ziel. Ich bin oft nach meiner Motivation gefragt worden, warum ich immer wieder auf die Berge steige, und ich denke, es sind genau diese Augenblicke, die einen erheblichen Teil davon ausmachen.
Doch der Zauber währte nicht lange, denn kurze Zeit später erreichten wir den Gipfel, und dort befanden sich ca. 30 weitere Bergfreunde. Ringsum strahlende Gesichter. Überglücklich gratulierten wir uns und genossen die phantastische Aussicht (die Erdkrümmung ist tatsächlich zu sehen).
Der Rest ist schnell erzählt. Aufgrund der Situation auf den Hütten entschlossen wir uns, am gleichen Tag vom Gipfel bis ins Tal abzusteigen. Nach dem Grand Couloir haben wir uns dann nochmals gratuliert. Am frühen Nachmittag erreichten wir wieder Nid d’Aigle. Dort gab es dann das (die) verdiente(n) Gipfelbier(e). Nach der Talfahrt mit der Bahn war Silke schon vor Ort, uns abzuholen.
In der folgenden Woche gelang uns im Unterwallis noch die Pigne d’ Arolla, ein Versuch an der Dent Blanche blieb leider in einem Gewitter stecken.
Wie wir im Nachhinein erfuhren, war die Grands Mulets Hütte aufgrund der aktuellen Gletschersituation seit Mitte Juli für die diesjährige Saison nicht mehr erreichbar. Der Mont Blanc konnte nur noch über die Goûter-Route bestiegen werden, die Überschreitung vom Refuge des Cosmiques war sehr problematisch (daher auch die extrem vielen Leute in der Normalroute).
Meine weiteren Ziele? -> sind, wenn sie gelingen, in den Fixpunkten 2004 nachzulesen!