Karawanken (2001)

Autor: Volker Beer

Gegen Semesterende bot die Universität wieder die verschiedensten Exkursionen an. Bernd und Frank leiteten eine botanische Exkursion, und es ergab sich für mich die Möglichkeit, an dieser Exkursion teilzunehmen. An einem trüben Sonnabendmorgen trafen wir uns vor dem Hauptbahnhof der Landeshauptstadt. Bald waren alle Rucksäcke, Reisetaschen, Regenschirme, Fachbücher, ein Biokular und auch wir in den beiden Kleinbussen verstaut. Eine ermüdende Fahrt von knapp 1000 km nach Süden liegt vor uns. Monoton brummt der Motor.
Das Ziel ist eine kleine Pension bei Eisenkappel, tief im Süden Österreichs, nur wenige Kilometer vor der slowenischen Grenze. Am Abend erreichen wir die gemütliche „Gostilna Franzl“, mitten in den tiefen Wäldern der Karawanken hinter der Trögerner Klamm. Die Studenten beziehen das Matratzenlager und wir richten uns im Mehrbettzimmer ein. Bald wird das üppige, mehrere Gänge umfassende Abendbrot gereicht. Weitere Überraschungen erwarten uns. Die Zimmer abschließen braucht man nicht, denn hier kommt nichts weg. Getränke kann man sich auch selbst nehmen. Alles geschieht auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. Jeder schreibt seine verzehrten Getränke selbst auf. Einfach paradiesische Zustände und ein Vertrauen, wie es in der westlichen Welt unbekannt ist. Die Wirtsleute sind jederzeit hilfsbereit und auch immer zu einem Schwatz mit uns aufgelegt. Die Hektik der modernen Industriegesellschaft, deren einziges Wertmaß der Maximalgewinn ist, hielt hier bisher noch nicht Einzug.
Kräftige Gewitter lassen zunächst nur kleine Exkursionen zu. Franzl, unser Wirt, hat ein ganzes Zimmer für die wissenschaftlichen Arbeiten zur Verfügung gestellt. Die Tische quellen über von den gesammelten Pflanzen. Die Bestimmungsbücher und das Biokular sind dicht umlagert. Papier wird blöckeweise verschrieben und Zeitungen zum Pressen der Herbarbelege sind bald Mangelware. Schon bald herrscht wieder das beste Sommerwetter. Ausgedehnten Bergtouren mit Exkursionscharakter steht nichts mehr entgegen. Die Mehrzahl der für die Karawanken charakteristischen Pflanzenarten ist bestimmt und die Belegexemplare harren in den Zeitungen der Aufnahme in die Herbare. So kann man sich nun auf seltenere Arten, also die Schmankerln, konzentrieren.
Eine erste größere Tour soll zur Villacher Kotschna führen. Doch bevor das üppige und abwechslungsreiche Frühstück eingenommen und die Tagesverpflegung für die Wanderung verpackt ist, steht die Sonne schon im späten Vormittag. Franzl stellt sogar das Butterbrotpapier zur Verfügung. Ja, das Mitnehmen von Verpflegung ist ausdrücklich erwünscht! Gegen Mittag erreichen wir dann doch noch die Offner Säge, eine kleine Holzmühle, den Ausgangspunkt der Wanderung. Bei brütender Mittagshitze beginnt der Aufstieg entlang eines Bachlaufes durch die Weichholzauen. Schließlich steigen wir durch montanen Fichten-Buchen-Tannenmischwald, wo wir einigen über 5 m hohen „Kreuzdornbäumen“ begegnen. Stetig steigt der Pfad und der Wald lichtet sich. Wir erreichen die Kampfwaldzone mit Legföhren, Felsenbirne, Mehlbeere, Vogelbeere, Weidenarten sowie Alpenrosen und der üblichen Beerstrauchvegetation. Die Wiesen sind blumenübersät, so daß das Wandertempo auf nahezu Null Stundenkilometer sinkt. Dafür haben die mitgeschleppten Bestimmungsbücher Hochkonjunktur. Die nachmittäglichen Quellwolken verhüllen inzwischen die Gipfel. Einige der Wolken haben eine blauschwarze Farbe angenommen und aus ihren weiß leuchtenden Kämmen ziehen zarte Cirrusstreifen in den blauen Himmel. Bald beginnen eben diese Wolken zu grollen. Aber wir haben Glück, denn die Gewitter ziehen zu den Gipfeln. An der Offner Hütte, einem verfallenen Biwak auf etwa 1500 m NN, halten wir eine ausgiebige Rast. Das Wetter hat sich inzwischen beruhigt und die Schauer zerfallen. Unsere Expeditionsleitung ruft zum langsamen Rückzug. Aber die Mehrzahl der Teilnehmer würde schon noch ein Stück weitergehen. Das Problem wird ausgiebig diskutiert und schließlich geruht man, doch noch ein Stück weiter aufzusteigen. Den Waldläufern und Bergsteigrennern unter uns wird die Möglichkeit eingeräumt, voraus zu gehen und bis zum 2000 m hoch gelegenen Sattel aufzusteigen. Eine Gruppe von vier Studenten, der ich mich sofort anschließe, prescht vor. Endlich einmal richtig ausschreiten! Vaccinium myrtillus, Rhododendron hirsutum und jede Menge Primula wulfeniana fliegen förmlich am Wegrand vorbei. Dann springen wir die Blockhalden auffi und stehen plötzlich inmitten steiler Schneefelder. Ich beginne mit dem Stufentreten. Die Gipfel links und rechts des Sanntaler Sattels sind in Wolken gehüllt, aber hinab nach Kärnten bietet sich ein schöner Ausblick. Das Land ist nahezu vollständig von Wäldern bedeckt. Hinter uns liegt Slowenien. Schnell noch ein „Gipfelbild“ auf der periadriatischen Naht, die hier den Sattel erreicht und den afrikanischen vom europäischen Kontinent trennt, aufgenommen. In großen Sätzen geht es nun talwärts und pünktlich erreichen wir am Parkplatz die botanisierende Mehrheit.
Eine der nächsten größeren Unternehmungen ist der Aufstieg zum Hoch-Obir, den das Gebiet beherrschenden Gipfel. Franzl-Wirts Kinder, Anna (8 Jahre) und Dominik (11 Jahre) möchten auch mit zum Hoch-Obir. Es findet sich auch noch Platz in den Fahrzeugen. Während des Aufstieges durch die uralten Bergwälder gibt es für die Kinder genug Abwechslung und für die Botaniker kaum neue, interessante Arten zu bestaunen. Doch als wir die hochmontanen Regionen erreichen, tritt der Wald zurück. Schlagartig gibt es wieder eine gegen unendlich konvergierende Artenzahl an Blütenpflanzen, die natürlich alle bestimmt und herbarisiert werden müssen. Die beiden Kinder beginnen sich zu langweilen und werfen mit Steinchen. Ich gehe mit ihnen zum Gipfel voraus. Dank der vielen Legföhren verlegen sich die Kinder auf „Tannenzapfenweitwurf“. Irgendwie gelingt es mir dann doch noch Anna und Dominik in Gespräche einzubeziehen und zu beschäftigen. Eine Wahnsinnsherausforderung für einen Junggesellen. Am Gipfel auf 2141 m Höhe herrschen Wind und Kälte, dafür bietet sich ein ausgezeichneter Rundblick über Kärnten und Slowenien. Wir halten Brotzeit und beginnen mit dem Abstieg. Da kommt uns auch die botanisierende Mannschaft entgegen. Bernd und Frank sind in die Bestimmung kritischer Arten vertieft. Nach einer kurzen Beratung steige ich mit beiden Kindern zur Eisenkappler Hütte ab. Dort gibt es einen schönen Spielplatz mit viel Spielgerät für die Kinder und für mich ein frisch gezapftes Moaß.
In der Folgezeit unternehmen wir ausgedehnte Busexkursionen ins schöne Kärntner Land und ins ebenso urwüchsige Slowenien. Bei Postojna besichtigen wir eine der größten Tropfsteinhöhlen der Alpen. 20 km Wege erschließen die Höhle. Da ist es verständlich, daß mit einer Bahn eingefahren wird. Die Höhle ist mit Tropfsteinsälen gigantischen Ausmaßes ausgestattet. Ständig wechseln Formen und Farben der Stalagmiten und Stalaktiten. Sogar lebende Grottenolme können wir in einem Aquarium bestaunen. Unweit der Höhle durchstreifen wir ein total urwüchsiges kleines Naturschutzgebiet mit Dolinen und kleinen Kalkhöhlen. Ein Fluß hat sich tief in die Kalkschichten eingegraben und schuf damit eine einmalige Landschaft mit tiefen Schluchten, klaren Kolken, einem Höhlenlabyrinth und natürlichen Felsbrücken. Alles ist von alten Rot-Buchen, Eichen, Kiefern, Berg-Ahorn, Hainbuchen, Linden und auch mit viel Naturverjüngung bestanden und wo es die Feuchtigkeit zuläßt, überziehen dicke Moospolster den Stein.
An einem wolkenlosem Morgen fahren wir zur Gladiolenwiese bei Villach – Oberschütt im Gailtal. Die wechselfeuchte Wiese mit einigen anmoorigen Plätzen eines Kalkflachmoores ist übersät von blühenden Gladiolen und Orchideen. Bestimmungsbücher und Fotoapparate werden ausgepackt. Von dieser Wiese steigen wir am Fuß der Villacher Alpe in den xeromorphen Trockenwald dieses sonnendurchglühten Südhanges auf. Hier kann es Sandvipern geben, aber wir bekommen keine zu Gesicht. Dafür entdeckt Frank einen wahrscheinlich bisher noch nicht beschriebenen Gattungsbastard der beiden Orchideenarten Rotes Waldvöglein und Kuckucksblume. Am Rand der feuchten Gladiolenwiese gedeihen Erlen und Pappelarten. Auch einige alte, mächtige Linden recken ihre Äste in den blauen Sommerhimmel. Der Wald selbst wird von Gemeiner Kiefer, Stiel-Eiche, Rot-Buche und Hainbuche dominiert. Die Fichten sind sicher ein „Geschenk“ der Forstwirtschaft. Auch Berg-Ahorn, Eschen und Walnußbäume wachsen hier. In der Strauchschicht finden wir Liguster, Berberitze, Mehlbeere, Hasel, Wolligen Schneeball, Roten Hartriegel, Rote Heckenkirsche und noch weitere Arten. Bei brütender Mittagshitze erreichen wir unsere glühenden Busse. Die Luft flimmert über den Fahrzeugen. So beschließen wir, ein Bad im nahegelegenen Faaker See zu nehmen. Am Abend wandern wir durch die Trögerner Klamm zur Pension. Auch hier erwarten uns noch etliche botanische Schmankerln. So blüht direkt am Fahrweg die Krainer Lilie. Auch gedeihen in der Schlucht Manna-Esche und Hopfenbuche in vielen Exemplaren. Nein, nein, diese sind keine botanischen Wolperdinger und Rasselböcke wie die Fliederkirsche. Also hier sind die botanischen Bezeichnungen: Die Manna-Esche trägt die Bezeichnung Fraxinus ornus und gehört zu den Ölbaumgewächsen. Die Hopfenbuche wird von den Botanikern Ostyra carpinifolia genannt und zählt zu den Haselnußgewächsen.
So vergeht die Zeit trotz der beschaulichen Ruhe dieser letzten „Urwälder“ viel zu schnell. Für den vorletzten Tag unserer Exkursion steht der Aufstieg zum Hochpetzen auf dem Programm. Erstaunlich früh, also in den späten Morgenstunden, starten wir auf der 1250 m hoch gelegenen Luschaalm unsere Ganztagesbergtour. Zügig durchwandern wir die Stufe der montanen Fichtenwälder. Erst im breiten Legföhrengürtel werden die Bestimmungsbücher aus den Rucksäcken genommen. Gegen Mittag erreichen wir den breiten Gipfel der Feistritzer Spitze / Hochpetzen von 2114 m Höhe. Eine ausgedehnte Mittagsrast ist angesagt. Jeder kann nach eigenem Gutdünken die alpinen Matten botanisch erkunden. Ich schließe mich Frank und Bernd an und fotografiere eine Unterart der Rauschbeere in deren voller Blüte. Leider ist die Sicht leicht diesig, aber trotzdem zeigt sich, daß das Land in allen Himmelsrichtungen überwiegend von Wald bedeckt ist. Der Abstieg wird noch einmal abwechslungsreich. Ohne gute Wanderkarte wollen wir über einen anderen Weg zur Luschaalm hinab. Zunächst folgen wir einem messerscharfen Grat. Ein Schneetälchen mit Resten von Schnee erlaubt noch eine verspätete Schneeballschlacht. Dann laufen wir querfeldein über die Wackendorfer Spitze zur Feuersberger Spitze. Im Norden bildete sich in der Zwischenzeit ein ordentliches Gewitter. Ein heißer Sturm bläst von Süden und hält die Wolken fern. Wir steigen weiter ab und treffen endlich auf den Forstfahrweg, der uns zur Wackendorfer Alm führt. Nun ist der Wegverlauf wieder eindeutig. Auf einem schmalen Pfad queren wir die Steilhänge und übersteigen Klippen mit herrlichen Ausblicken. Bald sind wir in einem sehr naturnahen montanen Buchen-Fichten-Tannenmischwald, der diesen Namen noch verdient. Uralte Bäume ragen in den Himmel, dazwischen stehendes und liegendes Totholz und Verjüngungskerne. Seltene Orchideen und Blumen prangen an den lichten Stellen. Dieser Wald hat offenbar noch kaum die „lenkende Hand“ der Forstwirtschaft gespürt. Ja manchmal stecken wir im wahrsten Sinne des Wortes bis über beide Ohren tief in der Strauch- und Krautschicht dieses Waldes. Zerkratzt, voller Spinnweben und müde, aber voller Erlebnisse und Eindrücke erreichen wir schließlich die Busse an der Luschaalm.
Der letzte Tag ist zur freien Verfügung. So steigen Dorothee, Bernd, Frank und ich in einem Seitental der Trögerner Klamm aufwärts. Überall treffen wir auf eine üppige Vegetation. Vom hochgefährlichen Gift-Hahnenfuß (Ranunculus thora) lassen wir die Finger. Schon allein vom Anfassen kann man ein Ekzem bekommen. Mit seinem ungestielten, blaugrünen, nierenförmigen, ganzrandigen nach vorne nur grob gezähnten Blatt sieht er so gar nicht wie ein „normaler“ Hahnenfuß aus. Genauso der häufige, aber nicht mehr blühende Seidelbast. Ohne Blüten ist er auch nur ein verholzter Strauch. Aber giftig ist er trotzdem. Nun ist aber genug botanisiert. Der Bach lockt mit seinen Kolken und klarem Wasser. Schon bald sind wir im natürlichen „Whirlpool“ untergetaucht. Am Nachmittag unternehmen Bernd und ich eine Radeltour nach Eisenkappel, um dort ein natürliches Durchbruchstal und einen Diabassteinbruch aufzusuchen. Im Kontakthof dieses Plutonits können wir uns viele interessante Gesteine und Vererzungen ansehen. Die Geologie des Gebietes ist vielgestaltig und abwechslungsreich. Und ehe ich mich so richtig besinne, habe ich meinen Tagesrucksack vollgepackt mit den verschiedensten Mineralien, Gesteinen und Erzen. Die Rückfahrt wird zur Belastungsprobe der Bergradeln, die uns der Wirt problemlos für die Radelfahrt zur Verfügung stellte. Nun heißt es packen und alles in den Bussen verstauen, die uns wieder zurück in die Großstadt nach Deutschland bringen.