Eistour zum Wilden Freiger (2010)

Autor: Volker Beer

Ein Sommer wie im Bilderbuch, im Urlaubsprospekt! Sonne pur, Badewetter über sechs Wochen in Folge. Als der Termin zur Bergfahrt näherrückt, verabschiedet sich der Sommer. Dunkle, monsunartige Wolken türmen sich. Während der Anreise durchqueren wir ein Gewitter nach dem nächsten. Der Wagen von Matthias, der sonst nicht mit weniger als 200 „Sachen“ über die deutschen Autobahnen fliegt, tuckelt mit müden 60 Stundenkilometern durch die Unwetter. Zum Nachmittag beruhigt sich das Wetter, so dass wir glücklicherweise den etwa zweistündigen Aufstieg zur Sektionshütte, der Sulzenauhütte in den Stubaier Alpen, ohne weitere Regengüsse bewältigen können.Das Wetter bleibt sehr wechselhaft. Gemeinsam steigen wir zum Sulzenaugletscher auf. Die Sonne lugt durch Nebel und Wolkenlücken. Wild sprudelt und schäumt der Sulzenaubach unterhalb des Gletschertores über mächtige Felsbrocken talwärts. Das Sonnenlicht funkelt im sprühenden Wasserfall. Am Peiljoch tappen wir im Nebel. Schon bald hat er uns wieder, der dünne, kalte, alles durchnässende Regen. Eine Gletschertour zum Wilden Freiger? Morgen könnte es passen. Es hat sich deutlich abgekühlt. Mein Höhenmesser zeigt ein langsames Sinken der Hütte, der Luftdruck steigt also. Am Abend trete ich noch einmal vor die Hütte. Dichter Nebel, leichter Regen und kalter Wind. Der Wind weht jetzt aus nördlicher Richtung. Ich richte meine Eisausrüstung. Uwe und Matthias packen ebenfalls ihre Tourenrucksäcke. Der Spott am abendlichen Hüttentisch ist uns gewiss!Zeitig bin ich wach. Es ist noch dunkel, im Lager. Ich schleiche aus dem Lager und trete vor die Hütte. Was ist das? Windstille, am Himmel verblassen die Sterne. Tief im Tal liegt eine Nebelbank. Rot leuchten ferne Bergesspitzen in der eben aufgehenden Morgensonne. Zurück im Lager wecke ich Uwe und Matthias. Nach einem Blick aus dem Fenster sind beide hellwach und schon bald sitzen wir beim Frühstück. Inzwischen ist die ganze Gruppe zugange. Gemeinsam steigen wir durch taunasse Wiesen zum Grünautal auf. Die umliegenden Gipfel leuchten im hellen Weiß nächtlich gefallenen Schnees. Vor uns teilt sich der Weg. Unsere Gruppe tut gleiches. Während Uwe, Matthias und ich uns dem Zustieg zur Leo – Schöpf – Route zuwenden, geht der Hauptteil unserer Gruppe zum Grünausee, dann weiter zur Seescharte und zum Gamsspitzl.

Über mächtige, von Gletschern abgeschliffene, steil aufragende Felsstufen führt uns ein kurzer, hervorragend angelegter Klettersteig zur Seitenmoräne. Immer weiter öffnet sich der Blick. Der Grünausee und die Moränen zurückliegender Vergletscherungen liegen tief unter uns im Schatten. Neben uns zieht der zerrissene Eiswurm des Wilde Freiger Ferners steil bergwärts. Wir folgen der Seitenmoräne. Über dem unteren Eisbruch liegt ein Eisplateau. Dort wollen wir auf den Gletscher queren. Das Plateau zeigt sich am Horizont. Stunde um Stunde steigen wir über die Felsblöcke bergwärts. Am dunkelblauen Himmel ziehen inzwischen einige wenige weiße Cirrusfasern auf. Immer wieder lassen uns das sonnige Wetter und die vielen leuchtenden Blüten im Moränenschutt zum Fotoapparat greifen. Die reiche Blütenpracht in unmittelbarer Nähe zum Gletschereis ist faszinierend. Gletscherhahnenfuß, Nelkenwurz, Teufelskralle, Hornkraut, Frühlingsenzian blühen unverdrossen. Daneben prangen die üppigen Polster von Alpen-Leinkraut und Mannsschild-Steinbrech. Eine Vielzahl farbenfroher Flechten überzieht das Gestein. Am Gletscherplateau halten wir Rast, legen die Steigeisen und die Ausrüstung an. Das Eis ist nur am Rand der Moräne schmutziggrau, von Spalten durchzogen und von Geröll bedeckt. Bald greifen die Steigeisen knirschend in den überfrorenen Neuschnee. Wir queren das weite Gletscherbecken und steigen schräg über den Gletscher einer Reihe von Felskuppen entgegen. Knapp unterhalb dieser Felsgruppe wollen wir über einen Steilaufschwung des Gletscherstromes zum Gipfelgrat aufsteigen. Ein eisiger Wind schlägt uns entgegen. Erste Nebelfetzen jagen vom Gipfel herab. Die hohen Wolken sind dichter geworden und ziehen rasch dahin. Wetterverschlechterung droht! Bald steigen wir über steile, tiefverschneite Gletscherhänge aufwärts. Plötzlich hüllt uns dichter Nebel ein. Eben so schnell reißt es wieder auf und hoch über uns funkelt das Gipfelkreuz in der Sonne. Aber immer wieder fällt Nebel ein. Zeitraubend und kräftezehrend stapfen wir durch tiefen Schnee. Die Spuren zurückliegender Begehungen sind längst nicht mehr erkennbar. Dafür lassen uns Streifen im Schnee immer wieder verborgene Spalten erahnen. Uwe steigt voraus. Dann zögert er, ändert die Aufstiegsrichtung. Ein Stapfen im Schnee mündet in ein kleines, schwarzes Loch! Kurze Zeit später trete auch ich solch ein kleines Loch in die makellose, weiße Schneedecke. Ich lass mich vorsichtig auf den Bauch fallen und ziehe meinen Fuß aus dem Schnee. Es gibt sie also doch, diese Gletscherspalten! Glücklicherweise sind sie hier nicht breiter als ein Bergsteiger dick ist.

Schwaches Sonnenlicht durchdringt den zunehmenden Nebel. Reißt er auf, zeigt sich der Himmel von einer weißlichen, dünnen und geschlossenen Wolkenschicht bezogen. Durch diesen Wolkenschleier scheint nur noch eine blasse milchigtrübe Sonne. Inzwischen steigen wir im Windschatten des gipfelwärts ziehenden Grates. Das Gelände um uns ist tiefverschneit. Als wir endlich diesen Grat erreichen, faucht uns ein heftiger Sturm aus südlicher Richtung entgegen, schleudert uns Schneekristalle und Nebelfetzen ins Gesicht. Wir verstauen unsere Rucksäcke hinter einer markanten Felsgruppe am Grat und klettern das letzte Stück frei zum Gipfel. Es ist ungemütlich, der Sturm heult, die Nebel jagen! Schnell ein paar Gipfelaufnahmen gemacht und das Gipfelbuch aus der Kassette am Kreuz genommen. Dann steigen wir schleunigst wieder ab, nur runter zu den schützenden Felsklippen, bei denen unsere Rucksäcke warten. Die Rast wird sehr kurz. Wir wollen den Normalweg über Signalkuppe und Seescharte absteigen. Doch alles ist verschneit. Dazu wird der Nebel zusehends immer dichter. Entlang des Grates ist der Weg zur Signalkuppe eindeutig. Aber die folgenden weiten Kare, durchzogen von verschiedenen Felsrippen liegen im tiefen Schnee. Etwa 50 cm Schnee liegen hier. Weit und breit ist kein markanter Orientierungspunkt im Gelände oder eine Wegmarkierung zu erkennen. Schneetreiben und dichter Nebel lassen nur den einen Schluss zu. Zurück zum Grat und auf gleicher Route absteigen! Der Wettersturz steht unmittelbar bevor! Schnell sind wir in unserer eigenen Spur zurück am Rastplatz und steigen sofort in die Route ein. Hier sind wir wieder im Windschatten. Unsere Aufstiegsspur ist gut zu erkennen. Schon bald steigen wir unter der nunmehr dichten Wolkendecke ab. Immer dunkleres Gewölk drückt in das Tal. Langsam senkt sich die Wolkenuntergrenze ab. Doch wir steigen schneller ab! Im Gletscherbecken halten wir am Moränenrand eine kurze Rast um unsere Eisausrüstung abzulegen und im Rucksack zu verstauen. Da schlägt das Wetter zu! Grauschwarz steht die Wolkenwand über uns. Der fallende Regen lässt das Panorama hinter seinem grauen Schleier entschwinden. Groß und schwer klatschen die Regentropfen auf uns, prasselt der Regen hernieder. Im strömenden Regen stolpern wir über die Moränen talwärts. Die nassen Flechten sind glatt und schmierig wie Seife! So manche Pirouette, so manchen Beinahesturz legen wir hin bis wir den Klettersteig an den glattgeschliffenen Felsstirnen erreichen. Das Wasser schießt über die Felsen. Da wo wir heute morgen aufstiegen, rauscht jetzt ein Wildbach, aus dem rettende Inseln in Form der künstlichen Trittstufen und des fixen Drahtseiles ragen. Nach einer weiteren Stunde Abstieg im unverändert strömenden Regen erreichen wir nass bis auf die Haut die Berghütte. Unsere tropfenden Sachen hängen schon bald im Trockenraum und vor uns dampft das gute Essen, steht schäumendes Bier auf dem Tisch. Eine phantastische Bergfahrt liegt hinter uns! Trotz aller Nässe!

Das Gewitter tobt die ganze Nacht. Es kann uns nicht von weiteren, wenn auch leichteren und gletscherfreien Touren abhalten. So steigen wir an den folgenden Tagen zum Großen Trögler, zur Mairspitz auf. Regen- und Graupelschauer wechseln mit klarer Sonne. Nebel spielen im Licht und verwandeln die Bergwelt in ein Zauberland. Prächtige Regenbögen entlohnen uns für so manche kalte Dusche.