Italien (2001)

Autor: Ralf Wegel

Der diesjährige Urlaub sollte uns nach Italien führen – in die Toskana. Noch bestimmen die Schulferien unsere Urlaubstermine, und so war auch der Zeitraum klar.
Wie meist hatte meine Frau Uta den Urlaubsort ausgewählt – das hat sich bewährt.
Nach der Festlegung des Preislimits und dem Wälzen vieler Kataloge stand fest, daß wir (mit unseren Töchtern Luise und Romy) für zwei Wochen eine Ferienwohnung in Montignoso (bei Carrara) beziehen würden. Um die An- und Abreise mit dem Auto streßfreier zu gestalten, sollte die Strecke halbiert werden. Für die Hinfahrt wurde deshalb eine Übernachtung in der Nähe der Deutsch – Österreichischen Grenze gesucht. Und die Rückfahrt sollte gleich für eine ganze Woche unterbrochen werden – in Südtirol. Neckermann bot uns eine Ferienwohnung in Außersulden an – mit Blick auf den Ortler. Wir nahmen dankend an.
Wegen der Zwischenübernachtung begann unsere Reise schon am Freitag, dem 13. Juli. Dennoch brachten wir die Fahrt nahezu problemlos hinter uns. Wir hatten lediglich etwas Mühe, das gebuchte Quartier in Auerbach (bei Oberaudorf) zu finden. Dazu war der Autoatlas zu wenig detailliert, und so mußten wir uns durchfragen. Mit dem Bestätigungsschreiben der Vermieter in der Hand fragte ich (gegen 18.00 Uhr) in der Rezeption einer Kurklinik in Oberaudorf nach. Wieder im Auto mußte ich den anderen vorsichtig erklären, daß wir uns schnell um eine andere Übernachtungsmöglichkeit kümmern müßten. Uta hatte das Quartier im Internet ausgewählt und telefonisch gebucht. Alles schien klar, und nach dem Weg wurde nicht gefragt. Pech, daß es nicht nur ein Auerbach gibt. Unsere Betten warteten in Auerbach in der Nähe von Nürnberg, also 300 km Richtung Dresden… Nach vielen Telefonaten und einer Klingeltour, wo wir weder Hilfsbereitschaft noch Gastfreundschaft finden konnten, kamen wir schließlich in einem Gasthof in einem Dreibettzimmer unter. Auch diese Nacht verging, und am Nachmittag des nächsten Tages erreichten wir trotz gelegentlicher Staus unser erstes Ferienziel mit einer komfortablen, empfehlenswerten Unterkunft. Einziger Problempunkt könnte bei großem PKW oder ängstlichem Fahrer die Anfahrt sein – etwa sechs Kilometer im Stil einer engen, gewundenen, steilen Tiefgaragenausfahrt mit Gegenverkehr, stellenweise nur nach warnendem Hupen und (bergauf) im ersten Gang zu bewältigen.
Montignoso erstreckt sich vom Mittelmeer bis in eine Höhe von 800 m. Es liegt am Fuß der Apuanischen Alpen, deren höchste Gipfel knapp unter 2000 m enden. Trotz dieser relativ geringen Höhe und des Mittelmeerklimas erscheinen die Gipfel schneebedeckt. Aus der Nähe (oder mit einem guten Fernglas) erkennt man die bis in die Gipfellagen reichenden, schneeweißen Flanken der Marmorbrüche. Hier hat sich schon Michelangelo das Material für seine Kunstwerke geholt, und heute werden etwa 300 Brüche betrieben. Diese kann man selbständig besichtigen, und man kann den riesigen, auf LKW ohne Ladefläche gepackten Blöcken bis in den Hafen von Carrara folgen, wo sie in alle Welt verschifft werden, und wo im Gegenzug Stein aus aller Welt (Afrikanischer Granit, Brasilianischer Marmor …) entladen werden, mit welchem die ansässigen Händler und Verarbeiter ihr Sortiment komplettieren.
Das Gebirge ist – nicht zuletzt für den Steinbruchbetrieb – relativ gut mit Straßen erschlossen, wenn diese auch stellenweise sehr schmal und kurvig, durch Tunnel und über Brücken geführt sind. Dadurch kann man schöne Wanderungen und Bergtouren ohne stundenlange Anmärsche unternehmen. Es gibt in diesem kleinen Gebirge fast keine bewirtschafteten Hütten mehr, was diverse Reiseführer immer auch behaupten mögen. Dafür trifft man oft auf einsam, aber wunderschön gelegene Villen, auf nahezu ausgestorbene bzw. nur in der Zeit der Eßkastanien- oder Olivenernte bewohnte kleine Ortschaften. Denn Olivenhaine und ausgedehnte Eßkastanienwälder bilden zusammen mit Pinien und Säulenzypressen die Hauptvegetation bis in 1200 m Höhe. Einige, wahrscheinlich selten begangene Wege in dieser Höhe sind mit Brombeeren, Disteln und stachligem Gesträuch ziemlich verwachsen, so daß sich lange Hosen empfehlen.
Hinter dem sich an der Küste entlangziehenden ersten Kamm der Apuanischen Alpen liegt, eingebettet ins Gebirge, das Tal des Serchio – Flusses. Dort gibt es uralte, malerische Städtchen (z.B. Barga) und Dörfer, und auch ein Besuch der Windhöhle (Grotta del vento) lohnt sich. Letztere hat ihren Namen von dem starken Luftzug, der ohne die dicht schließenden Türen am Eingang sehr lästig wäre. Das obere Mundloch liegt weit oben an einer Bergflanke, etwa 800 m höher als das untere Mundloch, was eine enorme Kaminwirkung ergibt. Das Serchio – Tal erreicht man leicht von Süden über Lucca; wir querten das Gebirge von Massa in Richtung Castelnuovo Garfagna auf enger Paßstraße und fuhren, entlang des Flusses, in Richtung Lucca.
Natürlich gehören zur Toskana auch Besuche in Pisa und Florenz, San Gimignano und Volterra, Siena … Für eine ausgesprochene Städtereise wählt man allerdings besser eine kühlere Jahreszeit.
Etwas nördlich von La Spezia – schon nicht mehr zur Toskana gehörend – liegen die „Cinque Terre“ („Fünf Dör­fer“). Diese reihen sich entlang einer Steilküste im Bogen einer felsigen Bucht, entlang einer Strecke von (laut Reiseführer) 12 km. Wegen ihrer Farbigkeit, ihrer malerischen Lage und der Architektur sind sie ein vielbesuchtes Ausflugsziel. Wenn man nicht gleich mit dem Zug an den Ausgangspunkt der Wanderung fährt, parkt man am besten außerhalb. Die Parkgebühr in den Orten nimmt einem sonst die Ruhe beim Wandern. Mit dem (größtenteils durch Tunnel fahrenden) Zug kommt man von jedem der Dörfer an den Ausgangspunkt zurück. Übrigens sollte man für die 12 km mit Pausen, Aufenthalt in den Orten, Fotostop… mindestens 5 Stunden kalkulieren und sich diese Zeit auch gönnen.
Man beginnt die Wanderung möglichst früh im südlichsten Ort, Riomaggiore. Dann hat man die Sonne nicht von vorn. Das erste Stück, der Weg nach Manarola, ist wie eine Promenade ausgebaut und ein herrlicher Spaziergang. Leider war für uns nach 1/3 des Weges Schluß – ein Erdrutsch erforderte Reparaturarbeiten. Wir fuhren deshalb mit dem Auto nach Manarola und wanderten von dort zunächst nach Corniglia. Der Weg steigt nach den Dörfern jeweils vom Meer auf 50 … 150 m Höhe und verläuft dann in nahezu konstanter Höhe am Steilhang, wobei eine ständig wechselnde, prächtige Aussicht auf das soeben verlassene Dorf, das Meer, die wechselnde Vegetation (Agaven, Feigenkakteen, Pinien, Olivenhaine) und bald schon auf das als nächstes zu erreichende Dorf den hauptsächlichen Reiz der Wanderung ausmacht. Natürlich sind auch die Orte selbst sehr sehenswert und bieten jeder etwas besonderes; einen alten Turm beispielsweise, einen Fischerhafen (wo man auch baden kann) mit einer Felsgrotte usw. Der Weg von Corniglia nach Vernazza ist etwas anstrengend, wilder und auch länger, als in unserem Reiseführer beschrieben. Wir verzichteten deshalb auf den letzten Ort, Monterosso, und gingen dafür in Vernazza noch mal baden, bevor uns der Zug nach Manarola zurück brachte. Monterosso hat eine flachere Küste, einen Strand und dafür als einziger der fünf Orte auch Hotelneubauten.
Nach zwei erlebnisreichen Wochen „setzten wir um“ nach Südtirol. Hatten wir uns bisher zwischen 0 und 1500 m bewegt, war jetzt alles 2000 m höher.
Um möglichst schöne Touren zu schaffen, benutzten wir die drei Liftanlagen von Sulden. Zur Akklimatisation unternahmen wir am Sonntag eine Tour zur Tabarettahütte, unter den Nordabstürzen des Ortler hinweg. Ein großer Block am Rande der Moräne trägt Erinnerungstafeln für die in der Nordwand Verunglückten, Achtungszeichen und Mahnung auch für die bergunerfahrenen Touristen, die eine Steinschlagrinne nur mit Warnschild als solche erkennen und mit Sandaletten auf den Gletschern herumturnen.
Ein Platzregen zwang uns zur Einkehr auf der Tabarettahütte, und ein prächtiger doppelter Regenbogen tief über dem Tal verschönerte das Panorama.
Die legendäre Stilfserjoch-Straße (48 Spitzkehren auf Südtiroler Seite) erlebten wir bei einer Busfahrt, also entspannt und unbeschwert. Am Joch oben Trubel, hier beginnt das Sommerskigebiet. Angesichts der Hotel- und Restaurantanlagen unvorstellbar, daß hier im Winterhalbjahr alles dicht ist. Dann liegt der Schnee „unten“ hoch genug; es lohnt die Mühe nicht, hier herauf die Straße freizuhalten. In der höchstgelegenen Bankfiliale Italiens erinnert ein kleines Museum an die Ortlerfront des ersten Weltkrieges, die unmittelbar hier verlief.
Unsere erste Gipfeltour führte uns vom Kanzellift zunächst zur Düsseldorfer Hütte (Zaytalhütte). Der anfangs ebene Weg führt bald über mächtige Blockfelder und teilweise steinschlaggefährdetes Gelände. Das Panorama von Königspitze, Zebru und Ortler (mit wechselnder Kulisse) ist prächtig.
Die Königspitze hat übrigens seit Pfingstmontag 2001 ein verändertes Gipfelgesicht: Die „Schaumrolle“, ein mächtiger Eis- und Schneeüberhang, der im westlichen Teil des Gipfelgrates wie ein Balkon nach Norden herüberhing, liegt jetzt unten auf dem Suldenferner. Etwa vierzigtausend Kubikmeter Eis und Schnee gingen, glücklicherweise nachts, ins Tal ab. In einigen Jahrzehnten wird die Schaumrolle vielleicht wieder da sein.
Die Düsseldorfer Hütte steht auf einer nahezu ebenen Rampe herrlichen Gletscherschliffs und bietet ein schönes Panorama übers Suldental. Hinter der Hütte ein völlig anderes, unerwartet romantisches Bild: inmitten des Gletscherschliffs kleine Seen, ein Bach, Blumen und das Panorama des oberen Zaytales (u.a. Vertainspitz, Hoher Angelus, Tschengelser Hochwand, Hinteres Schöneck). Letzterer Gipfel war unser Ziel. Zuerst mußte hinter der Hütte der Bach gequert werden. Dort, wo die Blöcke zu weit auseinander lagen, befanden sich Holzbohlen. Eine davon bog sich bei Belastung so weit durch, daß sie überspült wurde. Besonders die Kinder hatten daran viel Spaß. Der weitere Weg führte zunächst in Serpentinen über Schuttkegel, bewachsenen Fels und wieder durch Schuttrinnen an der südwestlichen Talwand hinauf. Nach einer Stunde kam ein Abschnitt leichter Felskletterei, bevor es schließlich über ein Blockfeld und einen kurzen Gratabschnitt auf den Gipfel (3128 m) ging. Uns bot sich ein – bei bester Fernsicht – überwältigendes Panorama: im Süden die Dominanz der „Großen Drei“, anschließend rechts dann das Gebiet ums Stilfserjoch, schließlich waren auch die Dolomiten und die Ötztaler Alpen zu sehen. Es wurde ausgiebig gefilmt und fotografiert.
Da wir zum Lift zurück wollten, stiegen wir nach viel zu kurzer Rast den gleichen Weg wieder ab (schöner ist der Weg über das Vordere Schöneck direkt hinab nach Sulden).
Die zweite Tour – zwei Tage später – hatte die Hintere Schöntaufspitze (3325m) zum Ziel. Von der Bergstation der Kabinenbahn an der Schaubachhütte geht es mäßig ansteigend entweder auf der Moräne entlang (Fahrweg, Skisesselliftstrecke) oder linkshaltend am Fels. Über einige Altschneefelder – ein Spaß für die Kinder – erreicht man das Madritschjoch. Der Blick öffnet sich ins Madritschtal (dort hinab geht es weiter ins Martelltal). Es folgt eine halbe Stunde plattiges Geröll mit mäßiger Steilheit. Dann ist der Gipfel ohne jede technische Schwierigkeit erreicht. Hier oben ist natürlich viel mehr los als auf dem Hinteren Schöneck, glücklicherweise aber auch genügend Platz. Es war etwas dunstig, dennoch hatten wir ein tolles Panorama. Links hinten neben der Königspitze dominierte der Cevedale, davor wie Perlen auf einer Kette Kreilspitze, Suldenspitze, Eisseespitze, Butzenspitze und Madritschspitze. Die Königspitze präsentierte ihren gewaltigen Gletscherbruch, den ich auf 400 m Höhe schätzte. Als Vergleich stellte ich den Kindern den Berliner Fernsehturm daneben – ungläubiges Staunen. Der Blick erfaßte auch die Gipfel rund ums Zaytal – Vertainspitz, Angelusspitzen, Tschengelser Hochwand, Hinteres und Vorderes Schöneck. Diesmal rasteten wir ausgiebig.
Während des Abstiegs sahen wir links unter dem Butzenjoch eine größere Seilschaft absteigen. Durchs Fernglas erkannte man, daß oben und unten je ein Bergführer mit großem Rucksack ging, dazwischen fünf Touristen. Die steilste Passage hatten sie bereits hinter sich, trotzdem saß immer wieder einer im Schnee. Vielleicht war auch die Kraft am Ende. Unklar war die Rolle des Seiles. Ein Sturz im steileren Gelände weiter oben hätte wahrscheinlich die ganze Seilschaft talwärts befördert, trotz des sanft ausklingenden Hanges wegen der Steigeisen eine gefährliche Angelegenheit. Nach einiger Zeit fuhren schließlich alle (außer den Bergführern) einzeln auf dem Hosenboden ab, um sich unten wieder zu sammeln. Wenige Minuten später grollte andauernder Steinschlag aus den Nordwestwänden von Butzenspitze und Eisseespitze. Gut, daß die Gruppe den Ebenwandferner bereits hinter sich gelassen hatte.
Unsere Bergtour ging glücklich zu Ende, wie auch der Urlaub insgesamt. Angesichts eines Erdbebens in Südtirol kurz vor unserer Ankunft, mehrerer Nachrichten über schwere Bergunfälle, der Situation auf der Autobahn und auf den Pässen, der Fahrweise italienischer Kraftfahrer, der Meldungen von drei schweren Unfällen in Tunneln; angesichts der Unfallstellen, die wir sahen, der Unwetter, die in Bayern wüteten … scheint das gar nicht so selbstverständlich.