Autor: Matz Goede
…liegt eigentlich nur daran, dass es danach, egal wie es weiter geht, meistens nicht mehr schlimmer kommen kann.
Wahrscheinlich ist das bei größeren Unternehmungen am Berg, mit begrenztem Zeitgefüge, doch so eine Art stillschweigende Gesetzmäßigkeit, der man sich nur schwer entziehen kann. Da man ja schon öfters unterwegs war, weiß ich es natürlich schon vorher und auch eigentlich besser, man kennt ja die Konsequenzen. Aber doch habe ich immer öfter den Eindruck, man kann den Gang der Dinge nur an bestimmten Punkten verändern und wenn die Tour feststeht, ist es zu spät, aber man hat die Gewissheit: Der Weg ist das Ziel. Oder aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet: Die Summe der Genüsse ist konstant.
Und so war es auch diesmal, Anfang Mai, Chamonix, Sonnenschein und viel Neuschnee. Da fällt das Klettern in schattigen Wänden mit scharfem Gerät erstmal aus. Aber das ist ja kein Problem, man kann ja die Zeit ganz gut mit Skitouren überbrücken… Aber bedauerlicherweise fährt Frank nicht Ski, auch nicht Snowboard, wegen ein paar verständlicher Leiden im Kniebereich, so dass diese geeignete Alternative doch nicht existiert. Was aber klasse geht, ist Sportklettern im Tal. Entspannt, unter grandioser Bergkulisse, Bohrhaken klinken und gemütlich nachchalken, das Leben ist schön und Rotwein gibt’s auch. Das zählt aber leider bei uns nicht als Eingehtour.
Als sich endlich nach ein paar Tagen die Schneelage normalisiert, brechen wir mit getapten Fingerspitzen auf, wobei die Tourenauswahl jedoch eingeschränkt wird. Das Telefonat mit dem Wirt der Argentiere-Hütte hat uns über die Bedingungen aufgeklärt, wir steigen auf und wollen die Lage vor Ort peilen. Damit nehmen die Dinge ihren Lauf.
Und die Peilung im Nordwandsektor ist nicht schlecht, am Courtes und Droites ist zwar erschreckend wenig Eis, aber die Aiguille Verte mit ihren Couloirs sieht ganz gut aus. Also dafür, dass der Hüttenwart uns im französischen Akzent mit den Worten „right now there are no conditions for ice climbing“ abwimmeln wollte, sieht es sogar wunderbar aus. Das Couturiercouloir hat eine elegante Linie, knapp 1000 m Eis, in meist entspannter Neigung und mit einer interessanten Mischung aus Blankeis und Tiefschnee. Wir gehen zeitig schlafen.
Kurz nach Mitternacht starten wir durch und nach drei Stunden stehen wir am Einstieg, der Firn ist gut, und als die Sonne aufgeht, liegt schon ein Drittel der Wand hinter uns. Soweit ganz gut, aber das war’s dann auch mit dem Motto: „Läuft doch ganz gut, oder?“. Denn das folgende Blankeis ist steiler als erwartet, wir binden uns ein und fangen an zu sichern. Aber nach ein paar Seillängen wird klar, dass Sportklettern als Akklimatisationsvorbereitung umstritten ist. Eigentlich schöne Kletterei, super Panorama, herrlicher Tiefblick, wir keuchen wie zwei alte Dampfloks, die drei Hänger zuviel im Schlepp haben. Dann kommt der Schnee. Jetzt tun die Waden zwar nicht mehr so weh, weil man bei jedem Schritt entspannt stehen kann, aber ein Tritt voraus will erstmal geformt, verfestigt und belastet werden. Naja das kennt man ja. Da man theoretisch hier nicht mehr fallen kann und die Sicherung schwieriger wird, aber eben doch ab und zu mal ein firniges Stück kommt, ändern wir die Taktik. 60 Meter ausgehen, dann tief graben, eine Schraube setzen. Zeit zum Atmen, jetzt hat der andere seinen Spaß, 120 Meter lang.
Wir wollten so gegen 10 Uhr am Gipfel sein… – als es 14 Uhr ist, sind wir ein paar Seillängen weiter, aber der Gipfel unverändert irgendwo am Ende des Couloirs. In diesen Momenten fühle ich die 4. Dimension ganz unmittelbar. Die Sache fängt langsam an einen unangenehmen Beigeschmack von Quälerei zu gewinnen. Müsliriegel und Wasser sind bis auf die Biwakration aufgebraucht, der Schnee ist konstant tief und kein Firn oder Eis voraus. Olaf S. hätte gesagt: „Die letzten Meter zieh’n sich…“. In der letzten Länge müssen wir nochmal alles geben: Blankeis und überfrorene Felsen – lecker. Es wird, glaube ich, keine astreine Begehung, aber 18 Uhr stehen wir oben. Unter blauem Himmel, auf diesem herrlichen Gipfel und um uns herum phantastische Berge, der Grand Jorasses leuchtet im Abendrot. Gefühl gewinnt. Auf jeden Fall und ich denke der Hüttenwart hat sich geirrt…
Auch weil wir strategisch super in der Zeit liegen. Wir kennen zwar den Abstieg nicht im Detail, aber der geht auf jeden Fall zur anderen Seite durch das steinschlaggefährdete Whympercouloir, das nur am späten Abend oder früh am Morgen sicher zu inspizieren ist. Da die Zeit dazwischen auch gilt, sind wir entspannt und kontrollieren lieber einmal mehr die teilweise suboptimalen Abseilstellen. Die sind mit der Stirnlampe nicht immer leicht zu finden, aber nach 600 m Talfahrt, stehen wir kurz vor Mitternacht unten auf dem Gletscher. Das ist ja schon mal was – noch 2,5 Stunden Weg bis zur Biwakschachtel… Doch die stapfen und stolpern wir im Mondschein so dahin, Zeit zum Nachdenken über die Sache mit den Wegen, Zielen und Genüssen – und vor allem den klugen Sprüchen.
Als uns am nächsten Morgen die Sonne weckt und uns die trockenen Kehlen und die leeren Bäuche zum Absteigen inspirieren, ist die Freude ein wohltuender Begleiter, denn ich weiß die nächsten Tage werden wunderbar sein, egal wie die Tourenplanung aussieht und wie es weiter geht… und als wir die ersten Wasserrinnsale aus geschmolzenem Schnee auf den warmen Felsen mit engem Lippenkontakt liebkosen, ist das Leben wieder im Gleichgewicht.
Die Berggötter waren uns gnädig und wir sind Ihnen dankbar dafür.