Zugspitzabfahrt über das Gatterl (2003)

Autor: Werner Starke

Eigentlich war ich mit meiner Frau in den Schulwinterferien zu einem Skiwanderurlaub nach Ehrwald gefahren. Aber nach 3-4 Loipentagen bekam ich von meiner Ehehälfte jeweils einen Tag frei für alpine Unternehmungen (Abfahren, Hochtouren), – und die Zugspitze lockte!
Ich hatte eigentlich (fast) alles richtig gemacht. Ich hatte den unteren Steilabschnitt der Gatterl-Abfahrt durch einen Fellaufstieg von der Bergstation des Lifts am Isseltaler Kopf erkundet, hatte mich am Abfahrtstag um Warnungen für Wettersturz und Lawinen („Sind gesprengt worden“) bei der Meteorologischen Station des Zugspitzgipfels gekümmert und wusste von den Vortagen, daß die Sonne um 17 Uhr untergeht und es 18 Uhr stockfinster ist. Davon rechnete ich 200% der benötigten Abfahrtszeit zurück und nutzte bis 14 Uhr die teure Tageskarte auf den Pisten des Zugspitzplatts, um mich wieder an alpine Hänge und durch Variantenabfahrten auch ein wenig an Tiefschnee zu gewöhnen.
Ich war dann am Nördlichen Schneeferner so weit wie möglich nach Süden gequert und fuhr nun die Brunntal-Piste bis 2300 m „Auf dem Platt“ ab. Die Direktquerung nach SO zum Gatterl erschien mir zu lawinös und zu sehr mit Tiefschnee gesegnet. So nahm ich einen 200m-Gegenanstieg in Kauf, fuhr auch noch den unteren Teil der Brunntalpiste bis in Sichtweite der Talstation und bog mit dem Schwung der gebügelten Hänge nach rechts zum Gatterl ab. Der Schwung war allerdings nach wenigen Metern weg. Eine unsichtbare Bremse hielt meine Tourenbretter magisch fest: Wo Sonne geschienen hatte tiefer Pappschnee, in Schattenpartien knietiefer Gries oder Pulver. Im ersten Moment ein kurzer Gedanke an Umkehr! Ein Blick zurück zeigte die Liftstation aber schon weit oben, und der mir entgegenrieselnde Gries ließ sie noch weiter entfernt scheinen. So siegten Faulheit und Ehrgeiz, und ich nahm das Kreuz im Gatterl fest ins Visier. Aber zuerst einmal Felle anlegen, – ein reines Vergnügen, wenn man hüfttief im Schnee steckt. Mit den Skiern an den Füßen liegt man dann nur unbedeutende Beträge höher, aber es schiebt sich doch, wenn auch mühsam, südwärts. Felsiges Gelände zwingt mich nochmals zu einer kurzen Abfahrt. Das Abmachen der Felle erweist sich bald als Fehler, denn im Schatten haben die Temperaturen angezogen, die Felle sind steifgefroren und kleben nicht mehr richtig. Halb Skifahrer, halb Maulwurf arbeite ich mich nun vor- und aufwärts zum heilbringenden Kreuz, das als Silhouette oben am Gatterl winkt, wohl andeutend, hier hast Du das Schwerste, aber noch nicht alles geschafft! Schon der sich breit machende Optimismus, ihm näher zu kommen, wird brutal gedämpft, als plötzlich mein rechter Ski heillos rutscht. Die Überprüfung ½ m untertage ergibt den Verlust eines Fells (s. o.), der Versuch, es im grundlosen Gries wiederzufinden ist aussichtslos, – vielleicht nach durchgreifendem Tauwetter. Ab jetzt angepasste neue Steigtechnik mehr im Treppenschritt, mit einem festen linken Standbein und einem rechten „Schlittschuh“. Als die Sonne untergeht und den Jubiläumsgrat rot aufleuchten lässt („Den könnte man eigentlich bei Gelegenheit auch mal machen!“), stehe ich dampfend und leicht erschöpft am Gatterl (2050 m, 16 Uhr). Meine Freude über den Teilerfolg wird nur dadurch getrübt, daß meine Fotobatterien den hohen Minusgraden Tribut zollten und den davon abhängigen Apparat nicht mehr zum Auslösen bewegen konnten. Sie wandern in die geringfügig wärmeren Hosentaschen.
Nun soll es angeblich nur noch abwärts gehen. Aber das minimale Gefälle zum Feldern-Jöchl (2041 m, 16.45) veranlasst nicht einmal mein rechtes Brett zum selbständigen Gleiten. Also weiter wühlen., ebenso den nächsten Abschnitt zu einem kleinen Jöchl Am Brand (17.15), wo gerade das Tageslicht verlischt. Nun endlich Steilabfahrt hinunter ins dunkle Gaistal. Aber nach 50 m freigeblasenem Hang gehen die Bretter wieder auf Tauchgang und ich muss in einem 30°-Hang zustaken, um vorwärts zu kommen. Dadurch entferne ich mich auch immer mehr von der eigentlichen Hangschrägfahrt zur Piste vom Isseltalköpfl. Das muss ich wieder mit Gegenanstieg und Wühlarbeit mit Kompass wettmachen. 18 Uhr fühle ich dann endlich im Stockfinstern den von Pistenraupen aufgeschobenen Wall des Pistenrandes. Ohne Licht ist aber auch eine 800m-Abfahrt nicht das reine Vergnügen. Ohne Vergleichs-Senkrechte gibt es Gleichgewichtsprobleme, wobei die Stürze gottseidank im Zeitlupentempo ablaufen, wie bei Nebel-Whiteout. Ab Ehrwalder Alm habe ich in Abständen Beleuchtung der Piste durch in Betrieb befindliche Schneekanonen, die außer dem Licht auch einen höllischen Lärm und Nieselregen verbreiten. Nach Durchfahren von etwa 20 solcher lokaler Regengebiete wusste ich auch, warum ich morgens zur Goretex-Jacke gegriffen hatte. Nur mäßig durchnässt machte ich dann knatternd den letzten Bremsschwung auf dem Blankeis vor der noch beleuchteten Talstation. Das Geräusch scheuchte einen Maschinisten auf, der aus dem Gebäude kam und verdattert fragte: „Wo kommen Sie denn her, ich habe doch in allen Kneipen oben angerufen, ob noch Abfahrer da sind!“ Auf dem Zugspitzplatt hatte er natürlich nicht angerufen! Und noch bei d e n Schneeverhältnissen! Der letzte Skibus war erwartungsgemäß längst weg, so daß mir noch 1 Std. Abfahrt und „Wandern“ durch Ehrwald bevorstand. Davor bewahrte mich aber der Mann, indem er mich wenige Minuten später in seinen PKW einlud und bald (19 Uhr) im Tannenhof ablieferte, wo meine Frau mit dem Wirt gerade in Erwägung zog, die Bergwacht zu verständigen. Knurrend machte letzterer mir stattdessen mein Abendessen wieder warm, während ich mir einen Liter Weizenbier zu Gemüte zog.
Zuhause schaute ich in einen Skiführer „Wetterstein“ und las: Keine Tour für Gelegenheits-Schifahrer. Wegen komplizierter Schneebedingungen nicht vor März möglich. Wie gut, dass man so einen Führer zu Hause im Bücherschrank hat!

Tourenempfehlung für Steigfaule bei gutem Frühjahrsfirn: Auffahrt mit irgend einer Zugspitzbahn, Abstieg zum Nördl. Schneeferner. Abfahrt SO-wärts direkt zum Gatterl (re./w. über der tiefsten Kammeinschartung) und weiter über Felderer Jöchl und Am Brand Hangschrägabfahrt über Seefelder Alm nach Seefeld (1600 Höhenmeter).
Besser ist es natürlich, die Abfahrtsroute vorher beim Aufstieg mit Steigfellen kennenzulernen. Den Aufstieg kann man sich durch Benutzung des Sessellifts zum Issentaler Köpfl allerdings um die Hälfte auf 800 m verkürzen, ohne den wichtigen oberen Teil zu verpassen.